IAEA-Team am Atomkraftwerk Saporischschja eingetroffen
Trotz wiederholter Störfeuer ist ein Expertenteam der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am Donnerstag am ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja eingetroffen. Nach mehrfachem Beschuss des Akw und seiner Umgebung will das Team unter Leitung von IAEA-Chef Rafael Grossi die Sicherheit der Anlage überprüfen. Noch am frühen Morgen waren die Anlage und die nahegelegene Stadt Enerhodar erneut unter Artilleriebeschuss geraten, ein Reaktor musste nach Angaben des ukrainischen Betreibers abgeschaltet werden.
Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlichte ein Video von dem Konvoi, das die Ankunft der UN-Fahrzeuge vor Ort zeigte. Ein Sprecher der IAEA bestätigte AFP die Ankunft der Experten. Grossi hatte sich zuvor entschlossen gezeigt, allen Gefahren zum Trotz wie geplant an seiner für Donnerstag geplanten Inspektion festzuhalten.
Wie gefährlich die Lage in dem von russischen Truppen seit März besetzten Atomkraftwerk ist, zeigte ein nächtlicher Granatbeschuss der Anlage: Wie die ukrainische Betreibergesellschaft Energoatom im Onlinedienst Telegram mitteilte, wurde das Notfallsystem aktiviert und der Reaktorblock Nummer 5 um 03.57 Uhr MESZ abgeschaltet. Allerdings sei die Notstromversorgung "beschädigt" worden. Energoatom macht Russland für den Angriff verantwortlich.
Zuvor hatte der aus Enerhodar geflüchtete ukrainische Bürgermeister Dmytro Orlow dem russischen Militär vorgeworfen, die Stadt im Morgengrauen erneut mit Granatwerfern und Raketen angegriffen zu haben. Er beschuldigte russische Truppen, auch die Reiseroute des IAEA-Teams anzugreifen. Orlow forderte Moskau auf, "die Provokationen zu stoppen und der IAEA Zugang zu dem Atomkraftwerk zu gewähren".
Das russische Verteidigungsministerium wies die Vorwürfe zurück. Es beschuldigte die ukrainische Armee, ihrerseits den "Treffpunkt" der IAEA-Mission in der Nähe des Kernkraftwerks mit Artillerie attackiert zu haben.
Zudem warf es dem ukrainischen Militär vor, "Saboteure" in der Nähe des Atomkraftwerks einzusetzen. Gegen 06.00 Uhr (05.00 Uhr MESZ) seien "zwei Gruppen von Saboteuren mit bis zu 60 Mitgliedern" in rund drei Kilometern Entfernung von dem Akw gelandet, teilte das Ministerium weiter mit. Russische Truppen hätten "Maßnahmen ergriffen, um den Feind zu vernichten".
Saporischschja liegt am Fluss Dnipro und damit an der Frontlinie. Das mit sechs Reaktoren größte Atomkraftwerk Europas wird seit Anfang März von russischen Kräften besetzt. Kiew spricht von hunderten russischen Soldaten, die inzwischen in der Anlage stationiert seien.
In den vergangenen Wochen war es am und um das Akw Saporischschja wiederholt zu Angriffen gekommen, wofür sich Kiew und Moskau gegenseitig verantwortlich machten. Vor einer Woche musste das Atomkraftwerk nach einem Brand erstmals für einen Tag komplett vom ukrainischen Stromnetz getrennt werden. Präsident Wolodymyr Selenskyj machte auch dafür russischen Beschuss verantwortlich.
Der wiederholte Beschuss nährt Befürchtungen, dass es in Saporischschja zu einer ähnlichen Atomkatastrophe kommen könnte wie 1986 im ukrainischen, damals zur Sowjetunion gehörenden Tschernobyl.
IAEA-Chef Grossi und sein Team wollen nun die Schäden der riesigen Anlage am Dnipro begutachten. Langfristig plant der IAEA-Chef nach eigenen Angaben eine "dauerhafte Präsenz" an der Atomanlage.
Der Chef des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Robert Madini, forderte unterdessen ein Ende des Beschusses der Anlage Saporischschja. "Es sei höchste Zeit, nicht mehr mit dem Feuer zu spielen", sagte Mardini in Kiew. "Die kleinste Fehleinschätzung könnte zu Verheerungen führen, die wir jahrzehntelang bedauern werden."
H.Erikson--MP