Pro-russisches Referendum in umkämpfter südukrainischer Region Cherson ungewiss
Die pro-russischen Behörden in der besetzten und derzeit stark umkämpften südukrainischen Region Cherson haben eine Verschiebung ihres geplanten Referendums über eine Annexion angedeutet. "Angesichts der aktuellen Entwicklungen glaube ich, dass wir im Moment eine Pause einlegen werden", sagte der Chef der pro-russischen Behörden, Kirill Stremusow, am Montag im Fernsehen. Im ebenfalls von russischen Soldaten besetzten Atomkraftwerk Saporischschja wurde indes der letzte Reaktor vom Netz genommen.
Der pro-russische Verwaltungschef von Cherson, Stremusow, erklärte kurz nach seinem Interview indes im Online-Dienst Telegram, bei dem Annexionsreferendum gehe zwar "alles nicht so schnell wie geplant". Die Abstimmung werde aber "auf jeden Fall" stattfinden. "Niemand wird es absagen." Es gebe "keine Pause", da zuvor kein Datum festgelegt worden sei. Die von Moskau eingesetzten Behörden in der Region Cherson sprechen seit mehreren Wochen von einem Referendum zur Annexion an Russland.
Die nun angekündigte Verzögerung sei eine "verständlicherweise pragmatische" Entscheidung. Die pro-russischen Behörden seien derzeit mit ihrer "Hauptaufgabe" beschäftigt: "die Bevölkerung zu ernähren und sie zu schützen".
Zuvor hatte die Ukraine Fortschritte bei ihrer Gegenoffensive in der Region gemeldet. Nach Angaben des Südkommandos eroberten die ukrainischen Soldaten mehrere Gebiet zurück und zerstörten unter anderem ein Munitionsdepot, eine Pontonbrücke und ein Kontrollzentrum der russischen Armee. Die in den USA ansässige Denkfabrik Institute for the Study of War schrieb in einem Bericht von "verifizierbaren Fortschritten im Süden und Osten" seitens der Ukraine.
Die Region Cherson mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt am Ufer des Dnipro grenzt an die 2014 - ebenfalls nach einem von Moskau organisierten Referendum - von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Als erste Großstadt der Ukraine war Cherson Anfang März kurz nach Beginn der russischen Offensive von der russischen Armee eingenommen worden. Die Region ist für die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung und wegen ihrer Nähe zur Krim auch strategisch wichtig.
Im Atomkraftwerk Saporischschja wurde der letzte noch arbeitende Reaktor wegen eines "durch Angriffe ausgelösten Feuers" vom Netz genommen, wie der ukrainische Betreiber Energoatom mitteilte. Dieses habe eine Stromleitung zwischen dem Kraftwerk und dem ukrainischen Stromnetz beschädigt.
Laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) verfügte das Akw ursprünglich über vier Hauptleitungen zum ukrainischen Stromnetz. Drei davon seien schon "früher während des Konflikts" abgeschnitten worden.
"Die Welt ist erneut am Rande einer nuklearen Katastrophe", sagte der ukrainische Energieminister German Galuschenko nach Bekanntwerden der Abkopplung des Akw Saporischschja. Galuschenko forderte einen Rückzug des russischen Militärs und die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone rund um das Kraftwerk.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schloss sich dieser Forderung in einem Telefonat mit seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj an. Die Sicherheit des Akw könne nur durch "einen Rückzug der russischen Truppen" gewährleistet werden, sagte Macron laut seinem Büro. Es sei "zwingend notwendig", die Sicherheit des Akw zu gewährleisten.
Zuletzt produzierte laut IAEA nur noch einer von sechs Reaktoren des Akw Strom "sowohl für die Kühlung als auch für andere wesentliche Sicherheitsfunktionen der Anlage und über das Stromnetz für Haushalte, Fabriken und andere".
Eine Mission der IAEA unter Leitung ihres Vorsitzenden Rafael Grossi hatte vergangene Woche das Akw Saporischschja besucht. Sechs Inspekteure verblieben danach zunächst dort. Am Montag reisten vier Mitglieder des IAEA-Teams ab, zwei weitere würden allerdings "dauerhaft" dort verbleiben, erklärte der ukrainische Betreiber Energoatom.
Saporischschja ist das größte Atomkraftwerk Europas. Die Kämpfe rund um das Akw schüren die Angst vor einer Nuklearkatastrophe wie 1986 in Tschernobyl.
D.Richter--MP